Projekt Weidekleid: Modedesignerin Bettina Reichl

Der Grazer Modedesignerin Bettina Reichl ist während des ersten Lockdowns in Österreich ein ganz besonderes Projekt zugelaufen – in Form eines Schafes: Projekt Weidekleid. Wie aus der Bekanntschaft mit einem Tier wunderschöne anspruchsvolle Mode wurde, die in der Herstellung Beziehungen und die Denke von Menschen veränderte.

Es war ein Spaziergang im April 2020, als das Leben zum ersten Mal stillzustehen schien, ein Spaziergang, der die Hoffnung brachte, die Gedanken auszulüften und das Gefühl der Enge auszutreiben. Es war ein Spaziergang, der unerwartet Leben veränderte.

In einem grünen Stadtteil von Graz, der zweitgrößten Stadt Österreichs, nutzte die Modedesignerin und Künstlerin Bettina Reichl ihre Umgebung, um sich in Zeiten der Pandemie Bewegung zu verschaffen. Auf ihrem Weg kam sie bei einem kleinen Schafbauernhof vorbei. Der war zwar schon länger da, aber bisher hatte er nicht ihre Aufmerksamkeit erregt. Doch dann erblickte sie dieses eine Lamm. Ein Lamm, das so gar nicht schafmäßig wie eine Katze dasaß und ihr direkt in die Augen schaute. Durchdringend sah es sie an und seltsamerweise erkannte sie Vertrautes darin. „Ich habe dieses Schaf gesehen und in ihm meine kürzlich verstorbene Katze erkannt. So unglaublich das klingt, aber dieses Schaf hat mich spirituell gemacht. Vor allem hat es mein Herz berührt.“

Und es ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Kurzerhand klopfte sie beim Bauern an und fragte, ob sie die Patenschaft für das Lamm übernehmen kann, um es vor der Schlachtung zu bewahren. Im Juni, nach der Schur, entstand die Idee, aus der Schafwolle der kleinen Herde Mode zu machen. Der Schafbauer bot ihr später die Möglichkeit, ein Praktikum am Hof zu machen und so arbeitete die Modedesignerin Reichl ein halbes Jahr lang stundenweise am Hof mit und lernte alles, was es zu lernen gab. Sie war fasziniert von der Persönlichkeit der Schafe und dem spannenden Prozess zwischen Tier und Mensch.

Von der Weide auf den Laufsteg

Es braucht viele Schritte, viel Zuwendung und viel Leidenschaft, um aus der Wolle eines Schafes Kleidungsstücke entstehen zu lassen. Vor allem dann, wenn man alles selbst und mit den eigenen Händen macht. Bettina Reichl hat den ganzen Prozess gelernt und sich das Know-how vom Schafbauern bis zur Filzerin weitergeben lassen. Unterstützung bei der umfangreichen Arbeit fand sie bei ihrer Schwester und Freund*innen, die sich von ihr inspirieren ließen und einfach mitgeholfen haben. In ihrem Haus hat sie sich ein Woll-Atelier eingerichtet, viele Tätigkeiten passierten auch im Freien im Garten. Alles wurde mit den Händen erzeugt. Die Etiketten in den Kleidungsstücken tragen die Namen der Schafe ebenso wie die der Freund*innen, die mitgeholfen haben, die Wolle zu verarbeiten. „Es war eine meditative Arbeit, bei der viele schöne Gespräche geführt wurden.“

Sie selbst bezeichnet das Projekt „als den Höhepunkt“ ihrer Laufbahn. Es ist ein Kunstprojekt, das aus dem Vereinen von Kollaboration, Design und Achtsamkeit Kleidung für die Seele entstehen lässt. Für Bettina Reichl ist Mode eine Sprache, die Kultur und Identität ausdrücken kann. Die Stücke aus dem Projekt Weidekleid können noch viel mehr. Sie stehen für eine „neue Schönheit“ und Verbundenheit, die man spürt, wenn man die Kleidungsstücke berührt oder trägt. Sie legen sich wie eine schützende Umarmung um einen herum und besitzen eine eigene Energie.

Für Bettina Reichl war das Projekt eine Katharsis mit der plötzlich so klaren Erkenntnis: Wir sind alle Lebewesen mit einer Seele. Irgendwann wurde ihr klar, dass es nur ein Ziel gibt: Die Wolle der Tiere muss so viel Wert sein, dass die Schafbauern vom Verkauf der Wolle leben könnten. Sie selbst wurde zur Vegetarierin, realistisch ist sie aber geblieben: „Das Schlachten von heute auf morgen zu beenden ist nicht möglich, denn das Fleisch der Tiere ist mehr wert als die Wolle. Mein hoher Anspruch an Design kann es aber möglich machen die Wolle teurer zu verkaufen“. Um dem Ziel näher zu kommen kann man mit Bettina Reichl gemeinsam mit ihr aus der Wolle eines Schafes ein Kleidungsstück herstellen. Eines mit ehrlicher Bedeutung.  

Über Bettina Reichl

Das Label von Bettina Reichl ODROWAZ ist auf nachhaltige Mode spezialisiert. Sie arbeitet mit weichen, fließenden Jersey-, Web- und Lodenstoffen aus Naturfasern und schneidert diese auf oft archaische, mönchische und gleichzeitig erotische Art rund um den Körper. Traditionelle Bekleidungsarten wie das Cape oder die Kapuze sind unverkennbare Basis ihrer Arbeit, ergänzt um futuristische Elemente wie hautenge Overalls.

Das Projekt Weidekleid war im August 2021 als Mode_Tanz_Performance im Kunsthaus Graz zu sehen und die Folgekollektion „United Felt“ wird im Rahmen des interkulturellen Modeprojekts Austria Rwanda Fashion Connect im März 2022 auf der EXPO in Dubai zu sehen sein.

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