DAS MAGISCHE DENKEN ein Essay von Franzobel

DAS MAGISCHE DENKEN ein Essay von Franzobel

Spiritualität ist sehr persönlich – eine neue, freiere Form des Glaubens

Frägt man mich nach Spiritualität, fällt mir Freistadt ein – ein kleines, für sein Bier bekanntes Städtchen. Wenn man mit der Bahn dorthin reist, kommt man zwar zu einem gleichnamigen Bahnhof, muss dann aber fast fünf Kilometer durch eine triste Industriegebiet-Wüste marschieren, um den Stadtkern zu erreichen. Ein läuternder Pilgerweg? Nein, es liegt auch nicht an geografischen oder esoterischen Gegebenheiten, die eine andere Bahntrasse verunmöglicht hätten, sondern am Geschäftssinn eines Fuhrwerkunternehmers, der vor 160 Jahren um seinen Profit gebangt und so lange Stimmung gemacht hat, bis man den Bahnhof im Niemandsland errichtet hat. Begründet wurde dieser Freistädter Schildbürgerstreich damit, dass der Funkenflug der Eisenbahn für eine erhöhte Brandgefahr sorge. Manche, scheint es, haben ihren Kopf nur, damit es beim Hals nicht hineinregnet.

Nicht alles, was Menschen tun, dient der Allgemeinheit.

Vieles geschieht aus Geschäftemacherei, sind doch Menschen von Natur aus selten anständig, fair, moralisch und respektvoll. Damit sich nicht alle aus Gier und Geilheit gegenseitig die Köpfe einschlagen, hat sich in den letzten zwei Millionen Jahren ein Regelwerk zum anständigen Leben herausgebildet – die Religion, welche aber spätestens seit Nietzsches Verkündigung vom Ableben Gottes an Einfluss verloren hat. Wissenschaftliche Erkenntnisse über den Urknall, die Evolution, Missbrauchsskandale und Fanatiker haben dazu geführt, dass Religion in der westlichen Welt uncool geworden ist. Wer glaubt hierzulande noch an Gott und stellt das Jenseits über das Diesseits? Die meisten sagen, sie glauben schon, aber nicht an einen Gott der Kirche. Viele wollen nur angenehm leben, und manche sehen den Sinn ihres Daseins gar im Lukrieren von Likes in sozialen Netzwerken. Würde es Himmel und Hölle geben, wäre wohl das Erste, was die heutigen Menschen dort täten, ein Selfie zu machen, um es auf Instagram zu posten. Ein Leben für virtuelle Follower?

Irgendwann merkt fast jeder: Da fehlt etwas.

Das Sinnvakuum wird mit Börsenspekulationen, Kryptowährung, Sport, Starkult oder einer auf Wellness ausgerichteten Lebensweise gefüllt. Aber reicht das? Was ist das Leben ohne höheren Sinn? Von einem Atheisten stammt der Ausspruch: Die Menschheit wird gläubig sein oder gar nicht mehr. Kein Wunder, dass in letzter Zeit immer mehr Menschen nach einer höheren Bestimmung suchen. Oder ist es ein Streben nach Optimierung? Geht es gar nicht um das Seelenheil, sondern um Effizienz? Ein Glaubender ist schließlich glücklicher als ein Atheist, selbst wenn er an Humbug glaubt. Glaube gibt Stärke und Zuversicht, nimmt Verantwortung. Seit der Aufklärung diskutiert man über Wahrheiten, richtig und falsch, dabei geht es letztlich nur um das, was wir brauchen, was uns nützt und guttut.

Die neue Esoterik verspricht eine Optimierung des Glücks.

Spiritualität ist sehr persönlich – eine neue, freiere Form des Glaubens. Es wird viel Schindluder mit dieser modernen Gläubigkeit getrieben, falsche Gurus machen Geschäfte, Scharlatane, betrügerische Heilsversprecher, und es kann schon sein, dass auch in der Spiritualität so mancher Bahnhof wie in Freistadt kilometerweit von seinem Ziel entfernt liegt. Aber wenn die Esoterik dazu dient, dem Wesen der Dinge näher zu kommen, den Respekt vor der Schöpfung zu erhöhen, die Wunder der Natur zu sehen, nehme ich diesen Umweg gerne in Kauf. Weil, wie bereits ein berühmter Atheist gesagt hat: Glauben müssen wir, selbst wenn es ein Glaube an Humbug ist oder, jetzt komme ich auf Freistadt zurück, an den Geist in einem schönen, frisch gezapften Bier.

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Franzobel

Franzobel ist ein österreichischer Schriftsteller. Er veröffentlichte zahlreiche Theaterstücke, Prosa und Lyrik. Seine Theaterstücke wurden unter anderem in Mexiko, Argentinien, Chile, Dänemark, Frankreich, Polen, Rumänien, der Ukraine, Italien, Russland und den USA gezeigt. 

Sein großer historischer Abenteuerroman „Das Floß der Medusa“ (Zsolnay Verlag) wurde mit dem Bayerischen Buchpreis 2017 ausgezeichnet und stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2017.

Foto: Dirk Skiba