DORF IST ÜBERALL ein Essay von Franzobel

Dorf ist überall

Wir erleben eine Zeit des Wandels, eine Zeit technologischer Revolution. Ich meine nicht die Umstellung auf alternative Energien und nicht die Möglichkeiten der Gentechnik, sondern das Internet. Plötzlich kann man mit Menschen in Papa-Neuguinea oder der Antarktis kommunizieren. Noch vor dreißig Jahren kostete ein Telefonat dorthin ein Vermögen, dauerten Briefe eine Ewigkeit. Nun können wir uns über das Wetter in Osttimor informieren, eine virtuelle Ausstellung in Ushuaia besuchen oder in der Speisekarte beim Lieblingschinesen in Guangzhou gustieren. Es ist nicht mehr die Frage, was man wissen kann, sondern was man wissen will.

Die Welt ist zusammengerückt

Die Welt ist zusammengerückt, das Internet hat die Erde zu einem Dorf gemacht. Und wie reagiert die Menschheit? Lassen Sie uns kurz in eine andere Zeit großer Umbrüche abschweifen – in das 16. Jahrhundert. Damals gab es die koperinikanische Wende, nicht mehr die Erde stand im Mittelpunkt, sondern die Sonne. Martin Luther reformierte das Christentum, Amerika wurde entdeckt, die Wissenschaft löste sich aus den Fängen der Kirche, Alchemie wurde zu Chemie, Astrologie zu Astronomie. Aus dem jenseitsorientierten Gemeinwesen entstand das bürgerliche Individuum mit Privatbesitz, Biographie und Kindheit, weshalb Diebstahl und Kindstötung streng bestraft wurden. Und wie reagierte die Gesellschaft? Mit einer Gegenreaktion! Man klammerte sich an die alten Werte, es kam zur Bildung eines Dachverbandes aller Bücherverbrenner, Pyromanen und Scheiterhaufen-Befürworter – der Spanischen Inquisition.

Ähnliches geschieht gegenwärtig in religiös dominieren Ländern. Aber auch in der westlichen Zivilisation hat das Weltdorf Folgen: Patriotismen, Nationalismen, geistige Verdörflichung. Durch das Internet rückt die Welt zusammen, aber die Menschen klammern sich an Grenzen und Distanzen.

Dabei ist das World Wide Web gar nicht so neu, auch Bäume oder Pilze kommunizieren, und immer wieder hört man von Leuten, die spüren, wenn ihre weit entfernten Angehörigen Hilfe brauchen. Auf der Erde können wir uns jetzt auch ohne Telepathie mit allen unterhalten, aber wie ist es mit Außerirdischen?

Manche meinen, der Kosmos sei ein Bewusstsein aus der Summe aller Gedanken.

Wahrscheinlich existieren alleine in unserer Milchstraße zehntausend andere Zivilisationen. Die Frage ist nur, wo sind sie? Es gibt im Weltall Milliarden Galaxien und mehr Sterne als Sandkörner auf der Erde. Der Mensch ist gemessen an den Dimensionen in Raum und Zeit unbedeutend, trotzdem hat sein Gehirn eine Meisterschaft erlangt.

Die Geschichte unserer Erde

Stellen wir uns die Geschichte unserer Erde als Strecke vor, können wir den Planeten einmal umrunden, ohne auf ein Lebewesen zu treffen. Bei der zweiten Umrundung begegnen wir Einzellern, die uns bis ins Mittelmeer begleiten. Wenn wir dann die Donau hinauffahren, gibt es erst in Rumänien Dinosaurier. Der Mensch taucht knapp vor Wien auf. An der einen Seite der Praterbrücke erfindet er die Schrift, und auf der anderen stehen wir gerade. Unser Fortschritt verläuft sagenhaft schnell. Noch vor wenigen Jahrzehnten gab es Fräuleins vom Amt, die jeden Telefonanruf verbanden, heute kommunizieren wir mit wem wir wollen – in unserem urbanen Dorf.

Der Weg ins Weltall ist durch technische Begrenztheit verwehrt, aber auch diese Probleme werden wir überwinden. Gut möglich, dass Menschen bald über den Tellerrand der Milchstraße hainaussehen und sich mit anderen Zivilisationen austauschen – und sei es nur für einen interplanetarischen Song-Contest. Das mag utopisch klingen, aber einmal gedacht, ist alles möglich.

Dann ist nicht mehr die Erde das Dorf, sondern der Kosmos, weil Dorf ist überall.

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Franzobel

Franzobel ist ein österreichischer Schriftsteller. Er veröffentlichte zahlreiche Theaterstücke, Prosa und Lyrik. Seine Theaterstücke wurden unter anderem in Mexiko, Argentinien, Chile, Dänemark, Frankreich, Polen, Rumänien, der Ukraine, Italien, Russland und den USA gezeigt. 

Sein großer historischer Abenteuerroman „Das Floß der Medusa“ (Zsolnay Verlag) wurde mit dem Bayerischen Buchpreis 2017 ausgezeichnet und stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2017.

Foto: Dirk Skiba