DER STREIK DER MAIKÄFER ein Essay von Franzobel

Maikäfer

Der Streik der Maikäfer

Als Kai Schläfer erwachte, fühlte er sich verkatert. Es war dunkel und er konnte sich nicht rühren, ja, er kannte nicht einmal die Wörter „Dunkelheit“ oder „Bewegung“. „Was ist los mit dir, du Faulpelz“, keifte ihn jemand an. „Alle deine Brüder und Schwestern fressen sich schon durch das Wurzelbeet, graben fleißig Gänge, und du liegst hier auf der faulen Haut.“ Kai Schläfer streckte sich und gähnte, er wusste nicht, was „faul“ bedeutete, hatte das Wort „Haut“ noch nie gehört. Nach ein paar Tagen wusste er Bescheid.

Er ging in die erste Klasse der Maikäfer-Schule. Ein Jahr später bekamen die Viertklässler einen Krustenmantel, unter dem ihnen Flügel wuchsen, dann krochen sie nach oben und flogen davon. Sie verwandelten sich also von Irdischen, die in der Erde lebten, zu Außerirdischen. Bald gab es kaum noch eine Familie, die nicht einen der ihren da oben hatte. Alle erzählten sich Wunderdinge vom Leben in der Luft, es sei hell und warm und bunt. Nur die Würmer meinten, dort oben wäre es ungesund und gefährlich, gäbe es fürchterliche Ungeheuer namens Wind und Regen und Wesen, die einen auf Haken spießten. Außerdem wüchsen einem unansehnliche Zacken und Hörner auf dem Kopf.

Aber die Reden der Würmer hatten weder Hand noch Fuß.

Als jedoch auch die Maulwürfe anfingen, Tiraden gegen das Leben in der Luft zu halten, von der Überlegenheit der Erdbewohner sprachen, den Vorteilen der Dunkelheit, wurden die Jungkäfer misstrauisch. Blödsinn, widersprach die alte Lehrerin. Ausgerechnet die für ihre Weltoffenheit bekannten Maulwürfe? Solche Vorurteile! Das Leben in der Höhe ist magisch und wunderbar, man ist frei.

Da oben ist die Zukunft!

Niemand schloss aus, dass die Dinge auch anders liegen könnten. Manche hielten die Lehrerin für rückständig mit alten Ansichten. „Wir werden kontrolliert und manipuliert! Irgendwer macht ein Geschäft damit. Es gibt gar kein Leben da oben“, sagten welche. „Die Geschichte mit den Flügeln ist eine Lüge, man führt uns hinter ein Licht, das es gar nicht gibt.“ Solche Reden wurden geschwungen. Und als Kai Schläfers Klasse vor dem Abschluss stand, war niemand bereit, sich den Krustenmantel umzuhängen. Alle streikten.

Niemand wollte die Heimat für ein luftleeres Versprechen aufgeben.

Lieber würden sie hier in der guten alten modrigen Erde das Gras von unten wachsen sehen. Das Wort führte einer der resolutesten Burschen, der viel in der Erde herumgekommen war; fünf Gärten hatte der gesehen. Als alle mit einer Saison ohne Abschlussklasse rechneten, trat Kai Schläfer vor, eigentlich kroch er, und mümmelte, er verstünde die Engstirnigkeit nicht. „Ihr seid voller Vorurteile, unfähig, euch auf neue Situationen einzustellen. Ich werde jedenfalls den Ausflug machen. Und wenn ich mir dabei den Hals breche, den ich gar nicht habe.“ Bald schlossen sich ihm welche an, waren die ersten ganz beflügelt. Und los ging‘s. Man konnte ausschließen, dass sich je ein Maikäfer mit so wenig Anmut bewegt hatte wie Kai Schläfer. Aber, oh Wunder, er flog. Es war fantastisch. Er konnte die Welt der Dinge mit einem einzigen Gedanken umarmen.

Plötzlich lag alles in einem nie gesehenen Licht.

Bunte Abgründe taten sich auf, grünflammendes Hügelland, Bäume, ein blaugekochter Himmel. Die Welt war buckelig, aber unsagbar schön. Ein Mosaik irisierender Regenbogenfacetten. Und nachts tat sich oben ein Sternenhimmel auf, schlossen unten die Gänseblümchen ihre Gesichter. Es war fantastisch. Ein Paradies. Bald aber tauchten Schatten auf. Das Erscheinen der Vögel warf die bisherige Denkweise der Maikäfer komplett über den Haufen, und schon verging ihnen der Enthusiasmus, mit dem sie eben noch durch die Gegend geflogen waren. Sie erkannten, dass sie leichte Beute waren. Aber bereuten sie es, ausgeschlüpft zu sein? Keineswegs, sagte Kai Schläfer, Maikäfer.

Dieses Erleben des Lebens war es wert.


Franzobel ist ein österreichischer Schriftsteller. Er veröffentlichte zahlreiche Theaterstücke, Prosa und Lyrik. Seine Theaterstücke wurden unter anderem in Mexiko, Argentinien, Chile, Dänemark, Frankreich, Polen, Rumänien, der Ukraine, Italien, Russland und den USA gezeigt. 

Sein großer historischer Abenteuerroman „Das Floß der Medusa“ (Zsolnay Verlag) wurde mit dem Bayerischen Buchpreis 2017 ausgezeichnet und stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2017.

Foto: Dirk Skiba