FRANZOBEl: Grüne Tomaten. Ein Märchen

Franzobel

Nehmen wir einmal an, die Welt wäre ein gigantisches Hochhaus. Dann würden die meisten in den mittleren Etagen leben und danach trachten, hinaufzukommen. Sie würden sich abrackern, um ihren Platz zu halten und den Kindern eine Ausbildung zu finanzieren, damit die einmal in ein höheres Stockwerk ziehen können – dorthin, wo es Balkone und eine gute Aussicht gibt.

Bereits in den unteren Etagen ist die Versorgung sicher, hat man Heizungen und genug zu essen, nur manchmal kommt es zu Stromausfällen und hin und wieder spucken die Wasserleitungen etwas Braunes aus. Je weiter man hinaufkommt, desto luxuriöser werden Möbel, Geschirr und Lüster. Seidenbetten und die Wände voller Kunst. Das Essen wird raffinierter und manche leisten sich Personal aus den unteren Gefilden.

Alle aber sind am Luxusleben der Oberen interessiert. Es gibt Medien, die unentwegt berichten, wer von der Elite an Liebeskummer leidet oder eine Vermählung plant. Tatsächlich befinden sich auf dem Dach Golfplätze, Sportanlagen, Swimmingpools, sogar eine Rennbahn und ein Schlammcatch-Ring. Die Bewohner feiern dekadente Partys, ziehen sich Drogen rein und haben nur einen Feind: die Langeweile. Hin und wieder hetzen sie Etagen gegeneinander auf, damit es zu Kämpfen kommt. Man appelliert an den Patriotismus und trichtert allen ein, mächtig stolz auf ihr Stockwerk zu sein. Die Oberen berufen sich auf eine göttliche Ordnung und eine Priesteretage beherrscht es meisterhaft, allen klarzumachen, dass dem Ganzen ein höherer Wille zugrunde liegt. Verwaltungsebenen regeln das Leben mit Gesetzen und Sicherheitsbeamte sorgen für Zucht und Disziplin, leben aber weiter unten.

Bei der Planung waren die Dachetagen für Wälder, Wiesen und Seen vorgesehen gewesen. Es war mit trillernden Vögeln, weidenden Kühen und galoppierenden Pferden konzipiert worden, aber bald gab es bloß noch Platz für Nutztiere der Oberen, während alle anderen in Stallungen im Keller mussten, gehalten in Kobeln, gefüttert mit Chemie und Kunstlicht. Mit ihnen hausen die Ärmsten der Armen, die sich um den Abfall in den Müllräumen streiten. Manchmal gibt es Aufstände, die zu nichts führen, weil schon die Leute in den unteren Mitteletagen sagen, die ganz unten seien selbst an ihrem Unglück schuld – faul, arbeitsscheu und dem Laster zugeneigt.

Junge Leute, die davor warnen, dass das Hochhaus bald kollabiert und die aus Protest Lifte und Treppenhäuser blockieren, werden beschimpft und nach unten strafversetzt. Doch sie haben recht. Irgendwann verenden die Nutztiere, andere gibt es bald nicht mehr. Die in dunkle Räume verlegten Gewächshäuser bringen keine Erträge ein. Also wächst der Unmut, werden irgendwann die oberen Etagen gestürmt, isst man die Rennpferde und Windhunde der Reichen, verbrennt die Pavillons und Schwitzhütten, jagt Oldtimer in die Luft. Nun herrschen Gewalt und Anarchie. Als das Ende naht, kommen Leute von ganz unten. Zerlumpte Kreaturen, aber wohlgenährt. Sie haben in den Kellern aus verfaultem Obst Säfte gepresst, Essig angesetzt und Bier gebraut. Sie haben zusammengehalten und gearbeitet, Pilze gezüchtet, Kartoffeln und Getreide angebaut, eine Insektenzucht angelegt und Früchte eingelegt. Der Kot von Tieren eignet sich als Dünger und mit einem raffinierten System aus Spiegeln ist es gelungen, sogar die finstersten Kellerräume auszuleuchten.

So schafft es der Überlebenskünstler Mensch immer wieder, sein Haus zu retten. Wie lange es noch steht, ist eine andere Geschichte. Wenn es darauf ankommt, fällt den Menschen immer etwas ein. Hoffentlich. Aber die Welt ist ja gar kein Hochhaus und dieser Text ist auch kein Märchen. Oder doch?

Über FRANZOBEL

FRANZOBEL ist ein österreichischer Schriftsteller. Er veröffentlichte zahlreiche Theaterstücke, Prosa und Lyrik. Seine Theaterstücke wurden unter anderem in Mexiko, Argentinien, Chile, Dänemark, Frankreich, Polen, Rumänien, der Ukraine, Italien, Russland und den USA gezeigt.

Sein großer historischer Abenteuerroman „Das Floß der Medusa“ (Zsolnay-Verlag) wurde mit dem Bayerischen Buchpreis 2017 ausgezeichnet und stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2017.