Ein architektonisches Statement, ein Symbol für Mobilität, ein neues Herz für Tallinns urbanes Gefüge: Mit der Errichtung des Ülemiste Terminal von Zaha Hadid Architects beginnt in Estland eine neue Ära der Infrastruktur.
Estland hat eine Vorreiterrolle in Europa – und darüber hinaus. Kaum ein anderes Land setzt verhältnismäßig so massiv auf Digitalisierung und Innovation wie der baltische Staat. Einen zentralen Part spielt dabei wenig überraschend Tallinn als Haupt- und einzige Stadt des Landes mit einer sechsstelligen Bevölkerungszahl. Ebenhier entsteht nun mit dem Rail Baltica Ülemiste Terminal mehr als ein neuer Verkehrsknotenpunkt. Zaha Hadid Architects (ZHA) entwarfen einen neuen Dreh- und Angelpunkt europäischer Mobilität, der den Innovationsgeist und das digitale Mindset Estlands nicht nur nach außen hin widerspiegelt.
In Zusammenarbeit mit dem estnischen Ingenieur- und Architekturbüro Esplan entwickelten ZHA ein Konzept, das weit über einen Bahnhof hinausgeht. Ülemiste wird zu einem Zentrum für unterschiedliche Verkehrsmittel; hier werden Fernzüge und Nahverkehr, Busse und Straßenbahnen, Radwege und der nahegelegene Flughafen Tallinn-Lennart Meri miteinander vernetzt. Darüber hinaus fungiert der Terminal künftig im wahrsten Sinne des Wortes als Brücke zwischen Stadtteilen, die bisher durch das Schienennetz voneinander getrennt waren.
Durchgangsort
Orientierung und Integration standen im Mittelpunkt der Planung. Offene Strukturen, fließende Linien und großzügige Lichtführung sollen ein dynamisches Raumgefühl schaffen. „Die Architektur folgt der Bewegung – die Wege der Reisenden bestimmen die Geometrie des Raumes“, so ZHA. Das Hauptgebäude wird eine Höhe von 20 Metern erreichen und sich schwebend über die Bahngleise sowie die angrenzende Suur-Sõjamäe-Straße erstrecken. Eine spezielle Herausforderung für die Umsetzung, da der Terminal modular entsteht. Sprich: Der Bau der komplexen Tragwerkslösungen wird in Etappen erfolgen – eine bewusste Entscheidung, um den laufenden Bahnbetrieb nicht zu unterbrechen.
Jeder Abschnitt des Terminals spricht seine eigene Sprache, fügt sich jedoch in ein gemeinsames Narrativ: Offenheit, Orientierung, Qualität. Besonderes Augenmerk liegt auf der Gestaltung der Terminalhalle. Die Zugänge von Nord und Süd führen in einen lichtdurchfluteten Raum, der nicht nur Durchgangsort, sondern Aufenthaltsraum ist – eine Brücke im wörtlichen wie im übertragenen Sinn.
Wirtschaftsort
Rail Baltica ist ein 870 Kilometer langes Hochgeschwindigkeits-Bahnprojekt, das die Hauptstädte Tallinn, Riga und Vilnius mit dem europäischen Hochgeschwindigkeitsnetz in Polen verbinden wird. 57 Millionen Euro werden in den Ülemiste Terminal investiert, dessen Fertigstellung bis 2028 erfolgen soll. „Mit dem Bau rücken wir dem Ziel näher, schnelle und effiziente Verbindungen nach Europa zu schaffen – und gleichzeitig neue Chancen für die heimische Wirtschaft zu eröffnen“, erklärt Anvar Salomets, CEO von Rail Baltic Estonia.
Der Stadtteil Ülemiste liegt in Lasnamäe – dem größten Bezirk der estnischen Hauptstadt. Das rund 3,4 Quadratkilometer große Viertel machte in den vergangenen Jahren einen entscheidenden Wandel durch: vom ehemaligen Industrieareal zu einem dynamischen Stadtentwicklungsgebiet mit hohem Wachstumspotenzial – sowohl zum Leben als auch zum Arbeiten. Mit drei Einkaufszentren bietet die Umgebung auch infrastrukturell alles, was man braucht. 150 Jahre nach der Initialzündung durch den Eisenbahnbau steht Ülemiste nun erneut an einem Wendepunkt. „Mit dem Rail Baltica Ülemiste Terminal entsteht hier ein neues internationales Verkehrsdrehkreuz – und eine Vision für die Zukunft, die erneut auf den Schienen fußt“, so die Verantwortlichen.
Zukunftsort
„Das Design des Ülemiste-Terminals zeichnet sich durch eine nahtlose Integration in die Umgebung aus“, betont Gianluca Racana, Board Director bei Zaha Hadid Architects. „Es vereint Benutzerkomfort, herausragende Konnektivität und Effizienz in einem zukunftsweisenden Mobilitätszentrum – und erfüllt dabei höchste Nachhaltigkeitsanforderungen.“ Das Projekt orientiert sich an den BREEAM-Richtlinien. „So wird nicht nur ein hochmoderner Hub gebaut, sondern auch zukunftsweisend gedacht“. Nutzerfreundlichkeit, Energieeffizienz und Langlebigkeit stellen die Eckpfeiler des Entwurfs dar.
2019 war ein internationaler Wettbewerb ausgeschrieben worden, in dem sich das Team von Zaha Hadid Architects gegen zahlreiche Mitbewerber durchsetzen konnte. Die Jury war hochkarätig besetzt, unter anderem mit dem ehemaligen Stadtarchitekten Tallinns, Endrik Mand, sowie Vertretern der estnischen Bahn und Wirtschaft. Anvar Salomets brachte es 2024 im Rahmen der Feierlichkeiten anlässlich des Baubeginns auf den Punkt: „Noch vor wenigen Jahren hätten wir nicht zu träumen gewagt, dass wir heute den Grundstein legen. 2028 laden wir alle zur Eröffnung ein.“
Text: Michi Reichelt
Bilder: negativ
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